„Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade“
Liebe Verwandte, Freunde, Wohltäter und Bekannte,
Redewendungen beleben unsere Sprache. Wir benutzen sie, ohne lange über die wörtliche Aussage nachzudenken, weil wir ihre symbolische Bedeutung verstehen. Wer „mit dem Kopf durch die Wand will“, „ein Hühnchen zu rupfen“ hat oder „seine Schäfchen ins Trockene bringen“ will, denkt nicht über die Wortbedeutung nach, sondern meint den Hintersinn dieser bildhaften Aussagen.
Sicher kennen Sie die Redewendung: „auf Schusters Rappen“ unterwegs zu sein. Wer kein Pferd hatte, wie z. B. ein armer Schuster, um eine Entfernung zurück zu legen, musste eben zu Fuß gehen und mit seinen Schuhen als „Rappen“ (ein Rappe ist ein schwarzes Pferd) vorlieb nehmen. „Auf Schusters Rappen“ unterwegs zu sein, bedeutet also nichts anderes als zu Fuß zu gehen. Und wer sich Schuhe nicht leisten konnte, musste eben barfuß gehen.
Im Mittelalter war noch „fahren“ das eigentliche Wort für „gehen“. Fahrende Sänger, fahrende Studenten oder fahrende Gesellen waren zu Fuß unterwegs. Im Wort „wallfahren“ hat sich diese ursprüngliche Bedeutung noch erhalten. Pilger gehen normalerweise zu Fuß. Während man lange Strecken zu Fuß unterwegs war, sammelte man Er-fahrungen. Eine einprägsame Erfahrung aus meiner Kindheit waren die mit meiner Großmutter zurückgelegten Wege in die 6 bzw. 8 km entfernten Nachbarorte. Wir gingen nicht auf der Straße, sondern auf überlieferten Feld- und Waldwegen, was dem Ganzen einen abenteuerlichen und ein wenig unheimlichen Anstrich gab. Trotzdem war ich sehr stolz, einen solchen Weg geschafft zu haben, auch wenn die Füße weh taten. Eine Nachbarin, die zu Vergesslichkeit neigte, vertraute auf das Sprichwort: „Was man nicht im Kopf hat, muss man in den Füßen haben“.
Mit diesen Gedanken zum Gehen, Wandern oder Pilgern will ich Sie nicht traurig machen. Einige von Ihnen müssen im Rollstuhl sitzen. Die Beine wollen nicht mehr. Es ist schmerzlich, dies einsehen und akzeptieren zu müssen. Solange wir flink gehen und laufen können, achten wir kaum auf unsere Füße. Erst wenn die Knie, die Knöchel oder die Zehen zu schmerzen anfangen, sind wir wieder gut zu ihnen.
In der Bibel werden die Füße öfters erwähnt, im Alten wie im Neuen Testament. So wird z. B. im 2. Buch Mose unsere Aufmerksamkeit auf die Füße von Mose gelenkt. Mose geht neugierig auf den brennenden Dornbusch zu, doch dann hört er die Stimme des Herrn: „Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab, denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden“ (2 Mose 3,5). Barfuß steht Mose vor Gott, das Ablegen der Sandalen ist ein Zeichen großer Ehrerbietung.
Ein besonders schönes Wort über die Füße fand ich in Psalm 119, Vers 105: „Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade“. Hier steht der Fuß für den ganzen Menschen, der Gottes Wort als Licht für seinen Lebensweg annimmt. Das bleibt gültig, auch wenn ich gar nicht mehr laufen kann. Der russische Maler Marc Chagall hat diesen Psalmvers in einem Fenster der St.-Stephans-Kirche in Mainz ins Bild gesetzt: ein Engel trägt einen Leuchter mit brennenden Kerzen auf dem Weg voraus, den ein Mensch gehen will.
Auch der Prophet Jesaia hebt die Füße hervor: „Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, der Frieden ankündigt, der eine frohe Botschaft bringt und Rettung verheißt“ (Jes 52,7). Wir dürfen diesen Satz auf Jesus beziehen, aber auch auf jeden Menschen, der als „Freudenbote“ zu uns kommt und unser Dasein ein wenig heller macht.
Die eben genannten Stellen stammen aus dem Alten Testament. Aus den Evangelien, also aus dem Neuen Testament, wissen wir, dass Jesus und seine Jünger üblicher Weise mit leichten Sandalen an den Füßen über Land gingen. Selbstverständlich bekamen sie dabei staubige Füße. Sogar dieser Staub auf den Füßen findet Aufmerksamkeit bei Jesus. Nach der Auswahl der Apostel (Mt 10,1-4) sendet Jesus sie aus. Er weist sie an, nichts auf den Weg mitzunehmen, ja nicht einmal Schuhe. Die Jünger sollten sich auf die Freundlichkeit und Gastfreundschaft der Menschen verlassen. Und dann fügt Jesus ein erschütterndes Wort hinzu: „Wenn man euch aber in einem Haus oder in einer Stadt nicht aufnimmt und eure Worte nicht hören will, dann geht weg und schüttelt den Staub von euren Füßen“ (Mt 10,14; Lk 9,5).
Der Evangelist Lukas erzählt von einer Frau, die Jesu Füße mit kostbarem Nardenöl salbte. Mit ihren Tränen wusch sie Jesu Füße und trocknete sie mit ihren Haaren (Lk 36-50). Jesus war gerade bei einem reichen Pharisäer zum Essen eingeladen. Als dieser sich über den unschicklichen Auftritt der Frau innerlich aufregte, hielt Jesus ihm vor: „Als ich in dein Haus kam, hast du mir kein Wasser zum Waschen der Füße gegeben; sie aber hat ihre Tränen über meinen Füßen vergossen und sie mit ihrem Haar abgetrocknet“ (Lk 7,36-50). Der Pharisäer hatte es wohl versäumt, den Gästen die Füße waschen zu lassen, wie es üblich war. Normalerweise wurde dieser Dienst von Sklaven ausgeübt. Deshalb waren die Jünger auch so entsetzt, als Jesus ihnen in der Nacht des Letzten Abendmahles die Füße wusch (Joh 13,5).
Bei der Kreuzigung wurden Jesu Füße brutal verletzt. Doch das war nicht das Ende. Nach der Auferstehung erschien Jesus den verstörten und verschreckten Jüngern. Er sagte zu ihnen: „Seht meine Hände und meine Füße. Ich bin es selbst“ (Lk 24,39).
Jesus nachzufolgen, heißt wörtlich: hinter ihm herzugehen. Wenn aber unsere Füße nicht mehr mitmachen, können wir ihm immer noch nachfolgen „mit ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit ganzer Kraft“ (5 Mose 6,5).
Andachtsbrief von Frau Eva Nees