Liebe Verwandte, Freunde und liebe Andachtsgemeinde,
der Februar war von sehr unterschiedlichen Prägungen bestimmt: zuerst von den fröhlichen Faschingstagen, dann von der mit dem Aschermittwoch beginnenden Fastenzeit. Der Monat März hat eine ganz andere innere Einteilung: der gesamte Monat mit Ausnahme des 31. ist von der Fasten- bzw. Passionszeit geprägt. Sie kennen bestimmt noch die schönen alten Namen der Fastensonntage, die sich vom Eröffnungspsalm des Gottesdienstes ableiten:
Invokavit (1. Fastensonntag),
Reminiszere (2. Fastensonntag),
Okuli (3. Fastensonntag),
Laetare (4. Fastensonntag),
Judika (Passionssonntag) und
Palmarum (Palmsonntag).
In sechs Wochenschritten gehen wir also dem Osterfest entgegen. Und wiederum sind wir mit einem scharfen Gegensatz konfrontiert: zuerst gedenken wir an den Kartagen des Leidens und Sterbens Jesu, um dann an Ostern seine Auferstehung von den Toten und sein immerwährendes Bleiben bei uns zu feiern.
Immer mehr rückt das Kreuz in unseren Blick. In sehr alten Kirchen hängen manchmal große, ehrwürdige Kreuze mit einem geschnitzten Körper von Jesus, wie z. B. in der Basilika in Wechselburg in Sachsen. In der Zeit der Gotik wurde der Körper Jesu am Kreuz leidend und schmerzverzerrt dargestellt. Die Menschen, die viel zu erdulden und zu leiden hatten, sollten zum unschuldig leidenden Christus aufblicken und so in ihrem eigenen Leid getröstet werden. Das berühmteste Beispiel dafür ist das Gemälde des Isenheimer Altares in Colmar von Matthias Grünewald, das in einem Spital aufgestellt war, in dem Schwerstkranke gepflegt wurden.
Kreuze begegnen uns nicht nur in Kirchen. In manchen Gegenden Europas sind zwischen Äckern und Wiesen oder am Wegrand Feldkreuze aufgestellt, die zur stillen Andacht einladen. In der Lausitz kann man an jedem Anwesen ein Hofkreuz sehen, das meistens mit Blumen und einem Licht geschmückt ist. Bergsteiger zieht es hinauf zum Gipfelkreuz, und an den Unfallstellen des Straßenverkehrs stehen kleine Holzkreuze, um des Menschen zu gedenken, der hier ums Leben gekommen ist. Manche tragen ein kleines Kreuz aus Gold oder Silber um den Hals, um ihre Treue zu Christus zu bezeugen.
Der Tod Jesu am Kreuz war für seine Jünger so furchtbar, schmachvoll und erniedrigend, dass man im jungen Christentum lange Zeit das Kreuz überhaupt nicht darstellte. Die Kreuzigung war der schändlichste Tod, den jemand erleiden konnte. Fromme Juden hielten den Tod am Kreuz für eine Strafe Gottes. „Verflucht ist jeder, der am Pfahl hängt“ zitiert der Apostel Paulus im Galaterbrief (Gal 3,13). Die von den Römern großzügig verhängte Strafe der Kreuzigung war eine so große Schande und Erniedrigung, dass römische Bürger dazu nicht verurteilt werden durften. Jesus, der unschuldig Verurteilte, erleidet den unehrenhaftesten Tod, den man sich zu dieser Zeit vorstellen konnte. „Er wurde zu den Verbrechern gezählt“ sieht der Prophet Jesaia voraus (Jes 53,12). Jesus hatte seinen Jüngern prophezeit, dass sich dieses Schriftwort an ihm erfüllen werde (Lk 22,37).
Das Leiden und Sterben Christi steht also im Einklang mit den heiligen Schriften des Alten Testamentes. Psalmen und Prophetentexte sagen den gewaltsamen Tod eines Gerechten voraus. So lesen wir in Psalm 22: „Ich aber bin ein Wurm und kein Mensch, der Leute Spott, vom Volk verachtet. Alle, die mich sehen, verlachen mich, verziehen die Lippen, schütteln den Kopf“ (Ps 22,7+8). Und weiter heißt es in diesem Psalm: „Sie durchbohren mir Hände und Füße. Man kann alle meine Knochen zählen; sie gaffen und weiden sich an mir. Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um mein Gewand“ (Ps 22, 17+18). Beim Propheten Sacharia lesen wir: „Und sie werden auf den blicken, den sie durchbohrt haben“ (Sach 12,10).
Jesus betete den 22. Psalm am Kreuz, zumindest den Anfangsvers, den wir alle kennen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2). War er sich bewusst, dass alles, was in diesem Psalm vorausgesehen war, sich in dieser Stunde an ihm erfüllte? Hatte er noch die Kraft, in einer letzten Ergebung auch diesen Vers zu beten: „Aber du bist heilig. Du thronst über dem Lobpreis Israels“ (Ps 22,4)?
Mitten durch die Altstadt von Jerusalem geht die Via Dolorosa, die Straße der Schmerzen. Diesen Weg musste Jesus – mit dem Kreuzbalken beladen – gehen. In den Tagen der Passionszeit ziehen viele Pilger durch diese enge Straße. Manche tragen dabei ein Holzkreuz, um so des Leidens Christi zu gedenken. Wir müssen nicht nach Jerusalem reisen, um den Kreuzweg zu gehen. Jeder von uns ist mit seinem eigenen Kreuz beladen. Dieses besteht nicht aus Holz, es besteht aus unseren Leiden und Sorgen, unseren Schmerzen und unserer Trauer. Jeder von uns geht seinen eigenen Kreuzweg.
Aus den Passionsberichten der Evangelisten erfahren wir, dass ein gewisser Simon von Cyrene das Kreuz Jesu ein Stück weit tragen musste (Mt 27,32; Lk 23,26; Mk 15,21). Gebe es Gott, dass jeder von uns, der seine Lebenslast wie ein Kreuz schleppt, einen solchen Simon findet, der ihm sein Kreuz tragen hilft.
Ehre sei dir, Christe, der du littest Not
an dem Stamm des Kreuzes für uns bittern Tod.
Herrschest mit dem Vater in der Ewigkeit.
Hilf uns armen Sündern zu der Seligkeit.
Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison.
Mit diesem altehrwürdigen Gebet, das in Salzburg um 1350 entstanden ist, wünsche ich Ihnen eine gesegnete Fastenzeit. „Seht, jetzt ist die Zeit der Gnade“ (2 Kor 6,2 nach Jes 49,8).
Eva Nees