Mai 2024: Andachtsbrief Frau Eva Nees

Leichte Silberwolken schweben durch die erst erwärmten Lüfte,
mild, von Schimmer sanft umgeben, blickt die Sonne durch die Düfte.
Leise wallt und drängt die Welle sich am reichen Ufer hin,
und wie reingewaschen helle, schwankend hin und her und hin,
spiegelt sich das junge Grün.

Liebe Verwandte, Freunde und liebe Andachtsgemeinde,

mit diesen Zeilen von Johann Wolfgang von Goethe grüße ich Sie zum Monatsanfang. Jedem von uns ist die Bezeichnung des Monats Mai als „Wonnemonat“ geläufig. „Wonne“ leitet sich ab vom althochdeutschen „wunna“ und bedeutete ursprünglich „umherziehen,  nach etwas suchen, etwas gewinnen“. Die Urbedeutung ist also: nach einem Weideplatz suchen. Es fällt nicht schwer, Wonnemonat mit Weidemonat zu übersetzen. Wir denken aber eher an die übertragenen Bedeutung: „wunna“ oder „wünne“ bedeuten für uns „Freude, Genuss“.

Aus dem Weidemonat wurde der Monat der Freude. Wer könnte das nicht nachvollziehen? Die Natur übertrifft sich selbst an Schönheit, an Blühen, Wachsen und frischem, belebendem Grün. Hier in unserer Gegend liegen die blühenden Kirschplantagen wie weiße Wolken auf der Erde. Wer könnte an all dieser Pracht achtlos vorübergehen und sich nicht von Herzen daran erfreuen?

Freude ist also das Thema des Monats Mai. Es gibt verschiedene Abstufungen der Freude. Freude kann spontan aber flüchtig sein; Freude kann intensiv und tiefgreifend sein. Selbstverständlich freue ich mich über die ersten Frühlingsboten. Ich freue mich, wenn der Zug pünktlich fährt bzw. ankommt oder wenn die Autobahn frei ist. Ich freue mich über eine Einladung oder über den ersten frischen Salat aus dem Garten.

Kann man Freude befehlen? Kann man sich am gegenwärtigen Zustand der Welt überhaupt noch freuen? Wer oder was verdirbt uns die Freude? Kann sich ein Mensch, der gerade eine schwere Krankheit durchmacht oder dessen Kräfte nachlassen, überhaupt freuen? Ein Spruch aus dem Buch des Propheten Habakuk hilft uns da weiter:

„Zwar blüht der Feigenbaum nicht, an den Reben ist nichts zu ernten, der Ölbaum bringt keinen Ertrag, die Kornfelder tragen keine Frucht. Im Stall steht kein Rind mehr. Dennoch will ich jubeln und mich freuen über Gott, meinen Retter“ (Hab 3,17+18).

Wir können diese Verse ohne weiteres in unsere Zeit übertragen. Äußerlich liegt für viele Menschen alles im Argen. Viele sehen nur noch einen Scherbenhaufen vor sich. Einsamkeit während der Pandemie, Angst vor der Zukunft, Zerstörung und unschuldiges Leiden durch die Kriege und viele andere äußere und innere Nöte überschwemmen die Menschen, lähmen und beugen sie. Und dennoch will ich mich freuen über den Herrn?

Wir durften Gott kennenlernen und sind darüber voll Freude. Diese Freude ist in unserem Innersten angesiedelt, in unserer inneren Schatzkammer. Der Prophet Nehemia geht noch einen Schritt weiter: „Die Freude an Gott ist unsere Kraft“ (Neh 8,10). Aus der Freude an Gott wächst uns die Kraft zu, die wir für die äußeren und inneren Anstrengungen brauchen. Sie stärkt unseren Widerstand gegen alles, was uns zu beugen und zu zerstören droht. Sie verhindert, dass wir von Angst überschwemmt werden. Diese Freude kommt aus der unsichtbaren Wirklichkeit, zu der wir im Glauben Zugang haben. Der Prophet Jesaia bekräftigt das: „Ihr werdet mit Freude Wasser schöpfen aus den Quellen des Heils! (Jes 12,3).

Wir haben Ostern gefeiert und erwarten die Tage von Christi Himmelfahrt und Pfingsten. Der auferstandene Herr hat versprochen, bei uns zu sein alle Tage bis zum Ende der Welt (Mt 28,20). Das richtet uns auf und erfüllt uns mit einer tiefen, köstlichen Freude. Erinnern wir uns an Jakob, den Sohn Isaaks. Als er seinen Bruder Esau betrogen hatte, musste er vor dessen Rache fliehen. In der ersten Nacht auf seiner Flucht bettete er seinen Kopf zum Schlafen auf einen Stein. Er war mutterseelenallein. Er stand jetzt nicht mehr unter dem Schutz seiner Sippe und fragte sich, ob er noch unter dem Schutz des Gottes seiner Sippe stand. Konnte es denn sein, dass Gott bei seiner Sippe geblieben war?

In dieser bedrückenden Situation wird Jakob der Traum von der Himmelsleiter geschenkt. Gott sagt ihm zu, dass er bei ihm sei, egal, wo er hingehe (1 Mose 28,15). Gott ist nicht an eine Sippe oder an einen Ort gebunden. Gott wohnt da, wo Jakob wohnt. So erkennt er: „Wirklich, der Herr ist an diesem Ort und ich wusste es nicht“ (1 Mose 28,16). Gott wohnt da, wo wir wohnen.

In allem Leid, in aller Hilflosigkeit und Verlassenheit ist Gott da. Ist das nicht der tiefste Grund für eine stille, starke Freude im Herzen? Diese Freude lässt unsere Seele blühen und grünen, auch wenn der Körper alt und gebrechlich wird. „Ich aber bin im Haus Gottes wie ein grünender Ölbaum“ (Ps 52,10).

Die Augen des Körpers sehen die Pracht des Monats Mai. Die „Augen der Seele“ erkennen die Schönheit Gottes, der um uns herum sein Zelt aufgeschlagen hat. „In deinem Zelt möchte ich Gast sein auf ewig“ betet der Psalmist (Ps 61,5). Freude und Seelenfrieden gehören zu den sieben Gaben des Heiligen Geistes (Gal 5,22), um die wir besonders an Pfingsten bitten (Lied Nr. 128 im Gesangbuch):

Heil´ger Geist, du Tröster mein, hoch vom Himmel uns erschein
mit dem Licht der Gnade dein.
O du sel´ge Gnadensonn, füll das Herz mit Freud und Wonn
aller, die dich rufen an.
Gib dem Glauben Kraft und Halt, Heilger Geist, und komme bald
mit den Gaben siebenfalt.

Herzlich grüßt Sie
Eva Nees